Der Nationalpark Jasmund

Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde und Förderer des Nationalparkes Jasmund e.V.

Nr.12                                                   März 1998


Süß- und Vogelkirschen auf Jasmund

Dr. Lutz Grope

Wer Ende Mai die Insel Rügen besucht, dem werden die zahlreichen blühenden Vogelkirschen an den Straßen, in den Gärten, an Waldrändern und im Inneren der Wälder nicht verborgen bleiben. Für viele Rügenbesucher ist es sicher überraschend, im Norden Deutschlands, noch dazu auf seiner größten Insel, Kirschen aller Altersstufen und Baumformen vorzufinden. Daß die dänische "Nachbarinsel" Bornholm schon lange mit der Kirschblüte um Touristen wirbt, läßt vermuten, daß Inseln und Kirschen unerwartet gut miteinander auskommen können - und das nicht erst seit heute. Durch Steinfunde konnte das vorgeschichtliche Vorkommen der Vogelkirschen sogar in Norwegen und Schweden nachgewiesen werden. Die Domestikation der Vogelkirsche (Prunus avium ssp. avium) erfolgte allerdings in Kleinasien, von wo aus die "Kulturtypen", d.h. die eigentlichen Süßkirschen, über Rom nach Mitteleuropa gelangten.

Auf Rügen sind gegenwärtig über 100 Jahre alte veredelte Süßkirschen und fast ebenso alte Vogelkirschen zu finden, die durch ihre Vitalität und Anpassungsfähigkeit an unterschiedlichste Standorte beeindrucken.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist das typische Klima der Insel, das hier gegenüber dem kontinentaler Obststandorte einige Vorteile für das Fortkommen von Obstgehölzen aufweist. Dazu zählen vor allem die gute Ausgeglichenheit der Jahrestemperatur, mehr Sonnenschein im Sommer, später Frosteintritt und wesentlich mehr frostfreie Tage bei ausreichender Temperatur und genügend Regen im Jahr. Hinsichtlich der letztgenannten Kriterien hat das Klima Ostrügens, in dessen Einfluß der Nationalpark Jasmund liegt, noch deutliche Vorteile (Tabelle 1).


Tabelle 1: Klimadaten der Insel Rügen und der Havelobstgebietes im Vergleich

West- Ostrügen Havelobstgebiet
Mittl. Jahrestemperatur (C)

7,0

7,0

8,5

Mittl. Temp. April - Juni (C)

9,0

9,0

12,0

Mittl. Temp. Juni - August (C)

15,0

15,0

16,0

Mittl. Temperaturschwankung im Jahr (C)

17,0

17,0

18,5

Sommertage mit mehr als 10 h Sonne

25

27,5

22,5

Mittl. erster Frosttag im Jahr

6.November

6.November

24.Oktober

Frostfreie Tage im Jahr

200

220

180

Mittl. Jahreniederschlag

540

600

540

Regenreichster Monat

April

Juli

Juli

Quelle: Klimaatlas der DDR; Merian, Die fünf neuen Länder


Gemeinsam mit Koch,H.-J. wurden Mitte der 80er Jahre Untersuchungen zum Reservoir an Süß- und Vogelkirschen auf Rügen begonnen, die heute noch fortgeführt werden. Das Ziel besteht darin, Individuen alter Landsorten und Vogelkirschen zu erfassen, zu bewerten und zu erhalten, um daraus bodenständige Auslesen und (Veredlungs-)Unterlagen für den Obstanbau, für Landeskulturzwecke und die Furnierholzerzeugung gewinnen zu können. Die Kirschen Rügens sollten in ihrer Gesamtheit standortbezogen betrachtet werden. Für besonders interessante Exemplare wurden Einzelbeschreibungen angefertigt und teilweise erfolgte der Erhalt ex situ (außerhalb des natürlichen Standortes), um den teilweise dramatischen Abgang zuvorzukommen. In Tabelle 2 sind einige der nennenswerten Individuen aufgeführt.

An der nördlichen Außenküste von Wittow sind zwischen Bakenberg und Varnkevitz am Kliff und im Küstenschutzwald auf dem Plateau des Steilufers zahlreiche Vogelkirschen und Bastarde von Vogelkirschen zu finden. Sie behaupten sich eindrucksvoll im Kampf gegen die vorherrschenden Rotbuchen sowie mit Stieleichen, Sandbirken, Espen und Kiefern. Die außerordentlich gute Anpassungsfähigkeit der Kirschen an den Druck der sie unmittelbar umgebenden Arten und an den Standort wird hier sehr anschaulich: Am Kliff ist der Wuchs stangenwaldartig und an der Plateaukante gespensterwaldartig. In den ca. 100 Jahre alten Rotbuchen auf dem Plateau finden sich nur vereinzelt Vogelkirschen. Sie zeigen dort den Wuchscharakter des Hochwaldes. Sämtliche Kirschen sind frei von Gummosis (Gummifluß, "Katzengold") und bringen gesunden Neuwuchs an Basis und Krone hervor.

Nicht zu übersehen sind zur Blütezeit die Süßkirschen in Hagen am Rande des Nationalparkes Jasmund. Auf dem Grundstück Dorfstraße 55 waren bis 1995 noch zwei eindrucksvolle Bäume zu bestaunen. Es handelte sich um die Lokalsorte "Steinhäger", die dem Formenkreis "Große Prinzessin" zugeordnet werden kann. Dieser war Anfang des 18. Jahrhunderts in Europa schon weit verbreitet, stammt höchstwahrscheinlich aus den Niederlanden und hieß dort "Lauermannskirsche". Die von NATHASIUS in Haldensleben bei Magdeburg geführte Baumschule bot diese Sorte schon 1842 als Hochstamm zu 71/2 Silbergroschen das Stück an.

Der 1995 gefällte Baum wies 107 Jahresringe auf, d.h. er wurde um 1888 angezogen und vermutlich 1889/90 gepflanzt. Im Jahr der Eröffnung der der Schmalspurbahn Putbus - Binz (1895) hat er, gerade fünf jahre alt, seinem Besitzer wahrscheinlich schon die erste Kostprobe süßer Früchte gebracht. Der noch stehende, nun schon 109 Jahre alte Baum trägt noch immer reich und regelmäßig. Seine Vitalität hat er wohl vor allem der günstigen Veredlungskombination maritime Sorte / bodenständige Unterlage (Vogelkirschensämling aus der Stubnitz) zu danken. Die Veredlungsstelle ist völlig glatt verwachsen. Gummosis tritt nicht auf. Der inzwischen gefällte Baum hatte ungünstigere Bodenbedingungen als der noch stehende. Er stand im oberen, mehr befahrenen und mit Hühnerkot stickstoffüberdüngten Teil des Garten, was u.a. zur Stockfäule führte. Beide Bäume haben, wie weitere ähnlich alte Süßkirschen und im aufgelassenen Gehöft Falkenburg, den von Südwest angreifenden Orkan vom 14. Januar 1993 schadlos überstanden. Auch dies bestätigt die gute Affinität der Veredlungspartner.

In den Wäldern der Stubnitz, die zu etwa 80% aus Rotbuchen (Fagus sylvatica I.) bestehen, gibt es vor allem im Umkreis von Stubbenkammer und der Wissower Klinken zahlreiche beeindruckend gewachsene Vogelkirschen. Sie stehen hier vorwiegend auf Stauchmoränen überlagernden Kreidestandorten, sind so alt wie die sie umgebenden Buchen und haben auch deren Höhe erreicht. Ihre Laubkrone hat sich im engen Stand mit den Buchen stets nach oben "geschoben", die darunter befindlichen Äste starben ab und es bildeten sich gerade, meist ungegabelte Stämme, die oft zwischen 1,20 und 2,00 m Stammumfang erreichen. Die Anpassung der Vogelkirschen ist so perfekt, daß sie im Buchenbestand manchmal gar nicht oder erst auf den zweitem Blick erkannt werden. Sämtliche Bäume, bis auf solche, die direktem Bodendruck ausgesetzt sind, sind frei von Gummosis. An ihre Standorte sind sie wahrscheinlich in der für Vogelkirschen klassischen Form, d.h. durch Vögel gelangt. In den Buchenjungwäldern fanden sie ideale Bedingungen zum Keimen und zum gemeinsamen Aufwachsen mit den Buchen vor, und keine Art dominiert die andere. Daß die Früchte von den Vögeln gerne verzehrt werden, belegen die zahlreich zu findenden aufgeknackten Kirschsteine. Dagegen ist die Aussage, daß Vogelkirschen von Fischern als Räucherholz in die Wälder gepflanzt worden sein sollen, wohl mehr als Seemannsgarn anzusehen...

Die auf der Kreide wachsenden, vorrangig von der Rotbuche geprägten Wälder sind wegen der geologischen Differenziertheit des Standortes besonders in den von der Ostsee beeinflußten ufernahen Bereichen artenreich und vielgestaltig. Ahorn, Elsbeere, Eibe, Vogelkirsche und andere Wildobstarten sind hier am Bestandsaufbau des Waldes beteiligt. Vogel- und Süßkirschen und deren Bastarde aller Altersgruppen wachsen auf Abbruchhalden direkt an der Kreideküste bis zum Geröllstrand. Als Beleg für deren hohe Anpassungsfähigkeit kann eine Süßkirsche auf gut halber Höhe im Kreidemassiv der Wissower Klinken dienen. In Gesellschaft mit einem Spitzahorn harrt sie dort schon seit Jahren mit einem geringsten Vorrat an Mutterboden aus. Inzwischen haben sich auch mehrere Sämlinge auf einem kleinen Plateau angesiedelt und leisten ihren Eltern Gesellschaft.

Ein Joker unter den Vogelkirschen der Stubnitz ist in der Nähe des "Pfenniggrabes" zu entdecken. Der morsche Stubben einer Rotbuche dient dieser Kirsche als "Unterlage", wo sie vor schätzungsweise 60-80 Jahren keimte und inzwischen zu einem beachtlichen Baum mit 1,35 m Stammumfang und 18,00 m Höhe heranwuchs. Ihre Wurzeln haben den Stubben völlig überwachsen, so daß sie auf eigenen Füßen steht. Diese Vitalität zeigen in der Stubnitz die meisten Kirschen auch durch eigenen Neuwuchs im Basis- und Kronenbereich. Auf natürliche Art verbreitete Vogelkirschen in Buchenwäldern gibt es auf Rügen u.a. noch bei Ketelshagen/Güstelitz. Erfahrungsgemäß stellt sich bei Vogelkirschen in bewirtschafteten Wäldern im Alter ab 70-90 Jahren Stockfäule ein.

In der Rügener Forst werden zur Zeit noch keine bodenständigen Vogelkirschenauslesen eingesetzt. Vielleicht kann er Stockfäule einmal durch solche vorgebeugt werden. Zahlreiche Süß- und Vogelkirschen sind auch an Straßen und Landwegen Rügens zu finden. So an der B 96 bei Ralswiek und an einem Landweg zum Sonnenhaken bei Buschvitz. Als Erwerbsstandort u.a. für Süßkirschen war Alt-Reddevitz jahrelang bekannt.

Zur aktiven Erhaltung und Nutzbarmachung dieses reichen Genreservoirs wurde 1987/1988 mit dem Sammeln von Veredlungsmaterial im Sinne der einleitend erwähnten Zielstellung begonnen. Die daraus gewonnenen Bäume stehen jetzt im 10. Beobachtungsjahr und zeigen unter vergleichbaren Bedingungen ebenfalls die schon erwähnte Vielfalt. 1998/99 wird eine Versuchspflanzung aus diesem Material nach Rügen zurückkehren, die von der Genbank Obst Dresden-Pillnitz betreut werden wird. Die Förderung der Arbeiten erfolgt durch das Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzung Gatersleben. Es wäre zu wünschen, das es dem Autor als Mitglied des Fördervereins möglich gemacht wird, auch an normalen Besuchern nicht zugänglichen Stellen die Suche und Erfassung für die Genbank interessanter Obst- und Wildobstgewächse regelmäßig durchführen zu können.


Tabelle 2:  Kennwerte von Süß- und Vogelkirschen (Prunus avium (L.) L.) auf Rügen und Hiddensee (Auswahl)

PLZ,Ort, Standort Stammumfang (m) Stammlänge (m) Höhe (m) Kronenbreite (m) Kronenform Aststellung Verzweigung Alter (Jahre) Bemerkungen

Wittow

18556 Schwarbe, nahe Steilküste, Kliffkante

1,04

2,00

10,00

8,00

hov

sa-sta

m-g

60-80

g.f.

Jasmund

18546 Stubbenkammer, n.ö. SB-Gaststätte

2,00

22,00

30,00

10,00

hw

sa-sta

m-d

100

1990 gefällt, g.f.

18546 Stubbenkammer ob. Parkplatz

1,21

22,00

28,00

4,00

hw

sa-sta

m

90

18546 Stubbenkammer, ob. Parkplatz

1,53

20,00

28,00

4,00

hw

sa-sta

m

90

1995 gefällt, g.f.

18546 Stubbenkammer, ob. Parkplatz

1,61

22,00

30,00

4,00

hw

sa-sta

m

90

g.f.

18546 Stubbenkammer, Kollicker Damm

2,06

12,00

32,00

12,00

hw

sa

m-g

100

g.f.

18546 Wissower Klinken, im Kreidekliff, 30 m ü NN

(0,80)

(1,00)

(5,00)

(6,00)

hp

wg-sta

m

(>30)

Extremstandort
18546 Poissow, Falkenburg

2,23

1,70

10,00

14,00

bov

wg-sta

m-d

>100

Gummosis, "Steinhäger"

18546 Poissow, Falkenburg

1,70

1,70

14,00

13,00

bov

wg-sta

m-d

>100

Gummosis, "Steinhäger"

18551 Hagen, Baumhaus, s.w. Waldrand

2,32

6,00

30,00

10,00

hov

sa-sta

m-d

100

g.f

18551 Hagen, nahe Pfenniggrab

1,35

2,00

18,00

8,00

hov

sa-sta

g

60-80

wächst auf Stubben von Fagus sylvatica
18551 Hagen, Dorfstr. 55

2,47

2,00

15,00

18,00

bkg

sa-sta

m-d

109

"Steinhäger" auf Prunus avium, g.f.
18551 Hagen, Dorfstr. 55

2,20

2,00

18,00

12,00

bkg

sa

m-g

107

Mittelrügen

18528 Ralswiek, B 96, Abzw. Ralswiek

2,26

6,00

14,00

10,00

hov

sa

m

90

1994 gefällt

18528 Ralswiek, B 96, Abzw. Ralswiek

2,39

6,00

14,00

12,00

hov

sa

m-d

90

Baumpilz

18581 Putbus, Park, s.w. Rosengarten

6,00

12,00

18,00

23,00

hov

sa-sta

g

>100

4-stämmig, seit 97 3-st., je 2 verwachsen
Hiddensee

18565 Kloster

1,84

6,00

18,00

8,00

hov

sa-sta

g-m

>80

g.f.

Abkürzungen: hov=hochoval, hw=hochwaldartig, sa=schräg-aufrecht, sta=steil-aufrecht, bkg=breitkugelig, m=mittel, d=dicht, g=gering, g.f.=gummosisfrei


Hinweise, Kommentare und Vorschläge bitte an teschke@mathematik.hu-berlin.de

Letzte Änderung: 17.07.1998

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