Der Nationalpark Jasmund

Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde und Förderer des Nationalparkes Jasmund e.V.

Nr.14                                                   Februar 1999


Gewöhnliche Wanzen und ein Pinselkäfer

Insektenbeobachtungen in der Sassnitzer Waldmeisterstraße

Meine Kladde, in der ich leicht vergeßbare Natureindrücke und Funddaten festhalte, enthält folgende Notiz:

24.06.98. Waldm.-Str., Bahnd. 1 x Pinselkäfer auf wilder Margerite, nach Störung davonfliegend.

Das Wörtchen "sonnig" steht beinahe unleserlich in eine Ecke gekrakelt. Die Uhrzeit, nämlich 18.45 Uhr, schien wichtig oder überraschend gewesen zu sein. Und der nebenstehende Großbuchstabe F verrät, daß Fotos vom vorgefundenen Objekt gefertigt wurden. Nach diesem Eintrag geriet die Beobachtung zunächst in Vergessenheit. Erst im Spätherbst ging ich ans Aufarbeiten der Insektenfunde des Sommerhalbjahres. Dabei kramte ich dann auch jene Aufnahmen, die mir der Pinselkäfer vor seinem Fortfliegen gestattet hatte, hervor. Und mit diesen Abbildungen stellten sich Erinnerungen an besagten Juniabend ein.

Soeben kehrte ich von einem Kontrollgang aus dem auflässigen Kreideabbau an der Sassnitzer Waldmeisterstraße zurück und bahnte mir einen Weg durch das Gestrüpp entlang der benachbarten Bahngleise. Seit den ersten wärmeren Tagen im Mai hatte ich hier ein geradezu explosionsartiges Auftreten und Vermehren verschiedener Wanzen beobachtet. Aus der Familie der Bodenwanzen war die rot-schwarze Ritterwanze mit dem weißen Rückenpunkt oft individuenreich vertreten. Sie legt ihre Eier klumpenweise in lockeren Bodenschichten ab und lebt - wenn sie sich nicht gerade allein oder in geselliger Runde sonnt - unter Grundblättern von Kräutern, in Grasbüscheln, unter Steinen und Holz. In der dichten Bodenvegetation traf ich hin und wieder auf Glasflügelwanzen, deren Flügelmembrane lichtreflektierend glänzen. Sie sind daher nicht leicht zu fotografieren.

Fast täglich waren im Bewuchs vor und unter Brombeerhecken eintönig lederfarbene, scheinbar ständige verliebte Randwanzen auszumachen. Die Seitenränder dieser Pflanzensauger ragen unter den Flügeln hervor und sind bei einigen Arten hochgebogen. Vor allem aber tauchten nacheinander verschiedene der beinahe fingernagelgroßen und schildförmig gewölbten Baumwanzen auf. Die Larven dieser Wanzenfamilie sehen in Form und Färbung oft überraschend anders aus als die erwachsenen Exemplare. Die Grüne Stinkwanze, die mit ihrem Wehrsekret gelegentlich Himbeeren und Brombeeren verstänkert, war ebenso darunter wie die Kohlwanze, die bei einem Massenbefall durchaus Schäden an Kulturpflanzen verursachen kann. Vereinzelt fand ich die gelbgrün-weinrot-bunte Ginsterwanze mit ihren gelbroten Fühlern; bedeutend zahlreicher trat die rötlich-gelbbräunlich gesprenkelte Beerenwanze, deren Fühler hell und dunkel geringelt sind, in Erscheinung. Einige räuberische Baumwanzen saugten Insekten und Larven aus. Besonders Raupen hatten es ihnen angetan.

Schließlich reihte sich in diese beachtliche Ansammlung größerer Wanzen noch die unverwechselbare Streifenwanze ein. Sie stammt eigentlich aus südlichen Gefilden und ist zugewandert; vor zehn, zwölf Jahren galt in der Fachliteratur noch die Umgebung von Bergen als nördlichste Verbreitungsgrenze dieser auffälligen Wanzenart. Bis zu 16 Exemplare zählte ich auf weißblütigen Doldengewächsen vor der Mauer einer leerstehenden Lagerhalle. Offensichtlich sagte den kleinen Krabbeltieren die sonnenexponierte Lage am Fuße der Crampaser Berge außerordentlich zu. Vor allem Kreuzblütengewächse, Malven und doldenblütige Pflanzen, aber auch Löwenzahnsamen oder die weiß-filzigen, bedornten Stengel der hochwüchsigen Eselsdisteln waren Lauerposten, Rastplatz und Speiserestaurant zugleich.

Nun finden wir Wanzen durchaus in verschiedenen Lebensräumen; fast alle denkbaren Biotope sind von ihnen erobert worden - sogar Höhen bis 5.000 Meter oder das offene Meer. Doch mehrheitlich handelt es sich um wärmeliebende, tagaktive Tiere, die mit Vorliebe Trockenhänge bevölkern und erst bei Sonnenschein richtig munter werden. Weltweit sind bisher annähernd 40.000 Wanzenarten beschrieben worden. Den Ruf, abstoßend und lästig zu sein, verdankt diese arten- und formenreiche sowie farbenprächtige Insektengruppe hingegen lediglich einer nicht besonders typischen Art: der Bettwanze. Die überwältigende Mehrheit der Wanzen hat dagegen mit uns Menschen nichts zu tun. Auch gestochen oder bespritzt wurde ich bei meinen Exkursionen bisher nicht.

Im Gegensatz zu anderen Insekten durchlaufen Wanzen eine unvollständige Verwandlung; ein Puppenstadium gibt es bei ihnen nicht. Statt dessen erleben die aus den Eiern schlüpfenden Larven bis zu fünf Wachstumsstadien, die jeweils mit einer Häutung enden. Nach jeder abgestreiften Haut sieht die heranwachsende Larve der Imaginalform ähnlicher. An aufgefundenen Albino-Larven und noch weißfleckigen, gerade erst ausgewachsenen Exemplaren der Streifenwanze war übrigens gut zu verfolgen, wie die jugendlich mehr bräunliche, später schwarzrot-streifige Körperzeichnung nach erfolgter Häutung erst allmählich ausfärbt. Trotz der zusagenden äußeren Bedingungen hatte es im Wanzensommer etliche Komplikationen gegeben. Beispielsweise notierte ich während der kühleren Regentage im Mai und im Juni, daß einige Wanzenarten offenbar wasserscheu und schwimmunfähig sind oder durch Kältestarre in Wasser leicht zu Tode kommen. Denn in den Blattquirlen hochwüchsiger Distelgewächse, die zeitweilig voller Regenwasser standen, fand ich mehrmals tote Tiere; es müssen schließlich hunderte - vor allem Kohl- und Beerenwanzen - gewesen sein.

Mitten in solchen Überlegungen, die mich auch an besagtem Juniabend beschäftigten, funkte es plötzlich. Eher zufällig war mein Blick auf eine Handvoll Margeriten gefallen. Donnerwetter! Auf einer Blüte saß ein zentimetergroßer Käfer, dessen Oberseite - mit Ausnahme der gelblichen, drei schwarze Querbinden tragenden Flügeldecken - wollig behaart war. So einen Pinsel-Käfer kannte ich bisher nur aus Bestimmungsbüchern. Es gab ihn also auch auf Rügen, am Rande des mittelgebirgigen Nationalparkes Jasmund. Rasch nahm ich die Fotokamera zur Hand. Doch so einfach waren Belegaufnahmen diesmal nicht gemacht: die Sonne stand tief, der Käfer war nicht gut ausgeleuchtet, die Margeritenstengel schwangen im Wind und das Stativ lag zu Hause ... - Kurzentschlossen griff ich zu, hielt die Blüte fest und drehte den Käfer zum Licht. Mit der freien Hand löste ich einigemale die Fotomechanik aus - hoffend, daß wenigstens eine Aufnahme die nötige Tiefenschärfe und keinen Verwackler haben würde. Na ja, Schwamm drüber. Die Strafe für ein solches unprofessionelles Verhalten folgte auf dem Fuße; der Käfer flog weg.

Nun sortierte ich also Fotos, für die ich nicht selten stundenlanges Vorbereiten, Beobachten und Ausharren benötigt hatte, und Schnappschüsse, die im Sekundentakt entstanden waren. Klar, daß bei letzteren eher ein Aussortieren angebracht war! So einfach wegwerfen wollte ich die Käferabbildungen indessen nicht. Gib sie doch dem Holger Menzel-Harloff, dachte ich. Denn der Sassnitzer Lehrer erforscht in seiner Freizeit intensiv unsere heimatliche Käferwelt. Gesagt, getan. Dann ein Anruf: „War alles nur Schruz; stinknormale Käfer auf den Fotos ... Nur der Pinselkäfer ... Hast Du Dich da nicht mit dem Fundort geirrt?“ (Höfliche Umschreibung für: Wolltest mich wohl mit einem Urlaubsfoto auf den Arm nehmen?“ - Nein.) Der Fundpunkt ließ bei mir keinerlei Irritationen zu. - Dann hast Du einen seltenen Nachweis dieses Käfers für Rügen erbracht.“ Uff! Da hätte ich also vor lauter gewöhnlichen Wanzen beinahe den einen außergewöhnlichen Käfer verpaßt. Siedend heiß lief es mir über den Rücken, als ich an das Zustandekommen der Fotos dachte. Und unmittelbar nach dem Telefonat stellte ich mein Fotoarchiv auf den Kopf. Womöglich fand sich ja noch eine Aufnahme, mit der die genaue Art benannt werden konnte.

Wenn nicht, dann hieß es zwei Jahre zu warten und dann am Fundort genauer zu suchen. Denn die kleinen Käferlarven, die sich im Mulm von Laubbäumen entwickeln, verpuppen sich erst nach dieser Zeit und wandeln sich zum vollausgebildeten Insekt. Zwei Käferansichten lege ich nach Durchsicht der Alben schließlich beiseite. Soll ein Spezialist noch einen Blick darauf werfen. Denn zur Gattung Trichius, der unser Käfer zweifelsohne zuzurechnen ist, gehören drei in Mitteleuropa vorkommende Arten. Vielleicht gelingt es, dem schmucken und bei uns noch seltenen Pinselkäfer aus der Sassnitzer Waldmeisterstraße bald einen Vornamen zu geben.

Dr. Reinhard Bülte


Hinweise, Kommentare und Vorschläge bitte an teschke@mathematik.hu-berlin.de

Letzte Änderung: 18.02.1998

Zurück zum Index

Zurück zur Homepage des Fördervereins